ARBEITSMARKT: KüNDIGEN KOMMT IN MODE

Rund 700 Kilometer ist die Strecke lang, die Maja Strzelecki auf ihrer Karte eingezeichnet hat. Vor ein paar Wochen ist sie in Lübeck aufgebrochen, bis nach Nürnberg will sie wandern. Einen großen Rucksack trägt sie, ausreichend Sportkleidung hat sie dabei, einen Schlafsack ebenso wie eine Stirnlampe – und ihr Pferd. Mit Bella am Halfter bahnt sie sich tagsüber ihren Weg durch Deutschland, nachts schläft sie in ihrem Zelt oder auf Pferdehöfen. Bis vor Kurzem sah ihr Alltag noch ganz anders aus. Die 23-Jährige hat als Krankenschwester auf einer Intensivstation gearbeitet, viele Tage und lange Nächte mit der Pflege kranker Personen verbracht. Bis sie sich dazu entschied, zu kündigen. „Ich hatte das Gefühl, mich selbst in diesem Job kaputtzumachen.“

Dass Menschen kündigen, weil die Arbeit sie nicht glücklich macht – das gab es schon immer. Doch Maja ist noch einen Schritt weiter gegangen. Sie hat ihre alte Stelle verlassen, ohne eine Zusage für eine neue zu haben.

Was für viele eine unerträgliche Ungewissheit wäre, ist für sie ein Abenteuer. Rund zwei Monate lang möchte sie sich mit ihrem Pferd eine Auszeit nehmen. Nach ihrer Wanderung wird sie auf einer Hütte in Österreich arbeiten, dann eventuell etwas Zeit in Island verbringen. Wann sie wieder in einen festen Job zurückkehrt, das weiß sie noch nicht. Ihre Wohnung hat sie aufgegeben. „Natürlich will ich arbeiten und etwas leisten“, sagt Maja. Sie überlegt, eine Ausbildung zur Ergotherapeutin zu machen. Jedenfalls aber, das steht fest, will sie sich genug Zeit nehmen, bevor sie etwas Neues beginnt.

Keine Angst, für ein paar Monate arbeitslos zu sein

Was früher wohl kaum jemand wagte, aus Angst, keinen Anschlussjob zu finden, das ist heute keine Seltenheit mehr – und zwar paradoxerweise vor allem bei denjenigen, die noch nicht besonders viel Arbeitserfahrung gesammelt haben. „Das Bedürfnis nach längeren arbeitsfreien Phasen scheint gerade bei jüngeren Arbeitnehmenden hoch zu sein“, sagt Neele Riemann von der Personalberatung Hapeko. Die freie Zeit würde etwa für größere Reisen oder den Hausbau genutzt. „Es gibt durchaus Kandidaten, bei denen ein Muster von zwei- bis dreijährigen Arbeitsphasen mit nachfolgender Auszeit zum Reisen und Arbeitgeberwechsel zu erkennen ist“, so Riemann.

Dass viele dabei nicht unbedingt den nächsten Job in Aussicht haben, legen auch die Zahlen des Personaldienstleisters Randstad nahe. Demnach haben 27 Prozent der 18- bis 24-Jährigen schon mal einen Job gekündigt, ohne eine Zusage für eine andere Stelle zu haben. Bei den Älteren waren es nur 19 Prozent.

Arbeitsökonom Enzo Weber sagt, junge Leute hätten zwar schon immer häufiger den Job gewechselt als ältere. „Das liegt daran, dass sie flexibler sind als diejenigen, die bereits eine feste Partnerschaft sowie Kinder haben und ein einem Haus wohnen, für das der Kredit abbezahlt werden will.“ Wer jung ist, probiert sich aus, schult womöglich noch mal um und nimmt notfalls den einen oder anderen Monat Arbeitslosigkeit in Kauf.

Doch der Umgang mit Kündigungen hat sich in den vergangenen Jahren deutlich gewandelt. Arbeitnehmer treten selbstbewusster auf und wissen um ihren Wert. Das Risiko, auch nach einer bewussten Auszeit keine neue Stelle zu finden, ist deutlich geringer als früher. „Die Arbeitsmarktlage ist viel besser. Es gibt zahlreiche offene Stellen, das gibt den Arbeitnehmern einen ganz anderen Verhandlungsspielraum“, sagt Weber.

Junge Leute haben das Gefühl, anderen gehe es besser

Auf diese Entwicklung des Arbeitsmarkts setzt auch die Wanderin Maja. Sie ist zuversichtlich, was ihre künftige Karriere betrifft. Sollte es mit der Ausbildung zur Ergotherapeutin nicht klappen, würde sie notfalls auch als Krankenpflegerin wieder eine Stelle finden, da ist sie sich sicher. „Fachkräfte werden schließlich immer gesucht“, sagt sie.

Ihre Reise teilt die 23-Jährige auf Instagram mit anderen. Sie lädt Videos von den Wanderwegen hoch, Selfies mit ihrem Pferd und erzählt von den schönen und weniger schönen Momenten, etwa als es zu Beginn ihrer Reise viel geregnet hat, sie durch den Matsch stampfte und es ziemlich kalt war. In den Kommentaren bekommt sie für ihr Vorhaben viel positives Feedback. „Ich beneide dich um diese Freiheit“, schreibt eine Nutzerin beispielsweise.

Womöglich fühlt sich dadurch auch der eine oder andere inspiriert, es genauso zu machen. Denn die sozialen Medien, so sagt es der Generationenforscher Simon Schnetzer, haben einen deutlichen Einfluss auf das Kündigungsverhalten junger Menschen. „Die Nutzer bekommen den Eindruck, allen anderen geht es sehr gut, während man selbst das Nachsehen hat“, sagt er. Oder anders gesagt: Dauernd Gleichaltrigen im Internet dabei zuzusehen, wie sie schöne Reisen machen und aus dem Alltag ausbrechen, weckt das Bedürfnis, es ihnen gleichzutun. „Die jungen Arbeitnehmer fordern dadurch Privilegien, auf die die älteren Generationen früher oft lange warten mussten“, sagt Schnetzer. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, schauen sie sich eben nach einem anderen Arbeitgeber um.

In ihrer Überzeugung, bei den Betrieben sehr begehrt zu sein, werden die jungen Arbeitnehmer aber nicht nur durch immerwährende Diskussionen über den Fachkräftemangel und Ermutigungen in sozialen Netzwerken bestätigt. Sondern auch von den Unternehmen selbst. „Die Zahl der jungen Arbeitnehmer, die Abwerbeangebote bekommen, hat sich im vergangenen Jahr fast verdoppelt“, sagt Simon Schnetzer. Das zeigen die Daten einer Studie, die der Generationenforscher in den kommenden Wochen veröffentlichen wird. „Und eine Kündigung des aktuellen Jobs bedeutet ja auch die Hoffnung, dass es einem künftig besser gehen wird“, sagt er.

Man ermutigt sich gegenseitig

Durch die sozialen Medien entstehe auch ein Mechanismus der gemeinsamen Bestärkung, sagt der Fachmann. Unter dem Hashtag #quitmyjob, zu Deutsch „ich kündige meinen Job“, finden sich Zehntausende Einträge auf den Plattformen Tiktok und Instagram. Privatpersonen und Influencer erzählen offen davon, wie sie ihr Arbeitsverhältnis gekündigt haben, manche filmen sogar das Kündigungsgespräch mit ihrem Chef mit und stellen es online. Darin zeigen sie sich meist selbstbewusst, nicht selten sagen sie ihrem ehemaligen Vorgesetzten dabei noch mal sehr deutlich, was ihnen nicht gefallen hat: der Umgangston, die Arbeitszeiten, die Aufstiegschancen.

Auch die deutsche Influencerin Joanne Glinka, bekannt unter ihrem Spitznamen Joi, teilt regelmäßig Videos zum Thema Arbeitsleben und Kündigung. Sie selbst hat ihren Job im Marketing vor knapp einem Jahr aufgegeben. Jetzt kritisiert sie auf ihrem Profil Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter überlasten und nicht genug wertschätzen. Die Influencerin will auch andere dazu ermutigen, ihren Arbeitgeber zu verlassen, wenn sie unglücklich sind – mit Erfolg: Fast zweihunderttausend Leute folgen ihrem Profil.

Glinka hat aus dem Appellieren an das Selbstbewusstsein junger Arbeitnehmer ein Geschäftsmodell gemacht. Unter einem fröhlichen Tanzvideo mit der Überschrift „Wenn du dich entschieden hast, deinen Job zu kündigen“ kommentieren zahlreiche junge Leute, die es Glinka nachgemacht haben oder angeben, sich von ihr ermutigt zu fühlen. Doch ob all diejenigen, die sich von Glinka inspirieren lassen, ebenfalls einen Account mit Tausenden Followern haben, mit denen sich im Zweifelsfall gutes Geld verdienen lässt, ist fraglich.

Nicht jeder findet sofort eine Stelle

So mancher hat den eigenen Wert am Arbeitsmarkt jedenfalls schon überschätzt – und musste die freiwillige Auszeit unfreiwillig verlängern. „Ich kenne gut qualifizierte Ingenieure, die sich im Vertrauen auf den Fachkräftemangel verkalkuliert haben“, sagt Personalberaterin Riemann. Natürlich könne man sich mit einer Auszeit persönlich weiterentwickeln. Es bleibe aber herausfordernd, dies in einem Vorstellungsgespräch zu vermitteln. Man solle damit rechnen, dass bei Führungskräften der Leistungsgedanke und eine hohe Belastbarkeit zählen. „Da kann man sich ausrechnen, auf wie viel Verständnis eine längere Auszeit nach zwei bis drei Berufsjahren stößt.“

Ob man es nun Auszeit oder Arbeitslosigkeit nennt – die Reaktionen fallen in Gesprächen sehr unterschiedlich aus, weiß auch Johanna Langer zu berichten. Ihren echten Namen möchte sie lieber nicht in der Zeitung lesen. Die 26-jährige Wirtschaftsingenieurin verließ ihren Job vergangenes Jahr noch in der Probezeit, weil er ganz anders war, als sie es sich vorgestellt hatte. „Es war zwar eine Stelle im Vertrieb, aber meine Tätigkeit war fast nur im Außendienst. Das hatte mir so deutlich niemand gesagt.“

Angst vor dem Stigma der Arbeitslosigkeit hatte sie zunächst nicht. „Ich habe seit dem Abi durchgehend gearbeitet, habe sogar dual studiert. Das ist meine erste Lücke im Lebenslauf.“ Während gleichaltrige Freunde sie darin bestärkten, ihren Job aufzugeben und Verständnis hatten für ihren Wunsch nach einer Auszeit, habe sie in der Tradition ihrer Elterngeneration vermieden, sich als „arbeitslos“ zu bezeichnen. „Ich habe dann eher gesagt, ich sei auf Jobsuche.“ Die ersten zwei Monate nach der Kündigung hat sie sich “bewusst nicht beworben“, sich “eine Auszeit gegönnt“. Danach ging es los mit den Bewerbungen, nach weiteren drei Monaten hatte sie dann eine neue Anstellung.

Lieber arbeitslos als unglücklich

Lieber gar keinen Job als den falschen, das scheint insbesondere bei jungen Leuten eine verbreitete Einstellung zu sein. In der Befragung des Personaldienstleisters Randstad gaben 41 Prozent der 25- bis 34-Jährigen an, lieber arbeitslos als unglücklich in ihrem Job zu sein, unter den 35- bis 44-Jährigen stimmten dieser Aussage nur 28 Prozent zu. Generationenforscher Simon Schnet­zer beobachtet zudem, dass junge Leute oft Sorge hätten, etwas zu verpassen. „Viele sind auch mitten in der Pandemie mit ihrer Ausbildung fertig geworden und direkt in den Job gestartet. Nun kommt bei manchen das Gefühl auf, die freie Zeit nachholen zu wollen.“

Nur muss man es sich eben auch leisten können, eine Pause einzulegen. Auch die Krankenversicherung will bedacht sein. Wer kein Arbeitslosengeld erhält und kein Einkommen hat, zahlt den gesetzlichen Mindestbeitrag. Mit dem Zusatzbeitrag liegt dieser bei der Techniker Krankenkasse beispielsweise bei 179 Euro pro Monat. Johanna Langer hat sich die fünf Monate durch Arbeitslosengeld finanziert.

Der Arbeitgeber hat ihren Vertrag auf ihren Wunsch hin aufgelöst, und so hat sie 1800 Euro monatlich erhalten und war automatisch versichert. Diese Möglichkeit hat nicht jeder, schließlich entfällt mit der eigenen Kündigung der Anspruch auf Arbeitslosengeld. Viele sparen in den ersten Jahren ihrer Berufstätigkeit, wenn sie womöglich auch noch in eher bescheidenen Verhältnissen leben, für ihr Abenteuer Geld an.

Maja Strzelecki, die mit ihrem Pferd durch Deutschland reitet, setzt vor allem auf Genügsamkeit. Bei ihrer anschließenden Reise ins Ausland wird sie ihre täglichen Ausgaben mit Geld bezahlen, das sie in Gelegenheitsjobs verdienen will. Sie weiß, dass sie finanziell nun ein bisschen zurückstecken muss. Ihre Kündigung hat sie bislang aber nicht bereut. „Ich bin mit meiner Entscheidung zufrieden“, sagt Maja.

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