TOURISMUS: WIE DER SCHWACHE YEN JAPAN ZUM BILLIGREISELAND MACHT

Deflation und eine schwache Währung machen das Hochpreisland günstig für Touristen – es kommen mehr denn je. Japans Regierung will den Trend nutzen, doch manche Regionen sind schon überlastet.

Die kleinen Seitenstraßen des traditionellen Vergnügungsviertels Gion gehören mit ihren Holzhäusern zu den Haupttourismusattraktionen in Japans alter Kaiserstadt Kioto. Hier leben und arbeiten die Geishas und ihre Auszubildenden, die Maikos. Doch jetzt hat die Stadt ausländischen Gästen den Zugang zu den privaten Gassen im Viertel verboten. „Wir wollen das nicht tun, aber wir sind verzweifelt“, begründete Isokazu Ota, ein Mitglied des Anwohnerrats, diesen Schritt im Gespräch mit Reportern.

Die Anwohner stören sich daran, dass viele Touristen den traditionellen Unterhaltungskünstlerinnen vor ihren Häusern auflauern, um sie zu fotografieren oder gar ihre Kimonos und – noch schlimmer – ihre hochgesteckten Frisuren zu berühren. Die Besucher verhielten sich wie Paparazzi, sagte Ota, Besitzer eines chinesischen Restaurants, der seit Jahren für die Gemeinschaft spricht. Japan erlebt zum ersten Mal so etwas wie „Übertourismus“.

Noch nie haben so viele Ausländer wie derzeit das Land bereist. Im März waren erstmals mehr als drei Millionen ausländische Reisende in einem Monat in Japan. In Kioto spazieren Amerikaner in Kimonos durch die Straßen. Wer im Iya-Tal auf der südlichen Insel Shikoku eine der letzten Lianenbrücken überqueren will, muss schon mal einer chinesischen Großreisegruppe den Vortritt lassen.

Deutsche Urlauber profitieren stark vom Wechselkurs

Urlaub in Japan ist attraktiv: Im Travel & Tourism Development Index des Weltwirtschaftsforums rangierte Japan dank seiner Kultur, Küche und Infrastruktur bereits 2021 unter den Top Ten der beliebtesten Reiseziele. Zuletzt ist das Land aber auch für ausländische Besucher enorm günstig geworden.

Zum einen ist der Wert des Yens im Vergleich zum US-Dollar und Euro in den vergangenen Jahren deutlich gesunken. Zum anderen haben sich nach fast zwei Jahrzehnten Deflation in Japan die Preise für Tee, Sushi, andere Speisen im Restaurant, den Tempeleintritt oder Mitbringsel kaum verändert.

Inflations- und wachstumsbereinigt habe der Yen seit Mitte der 1990er-Jahre zum US-Dollar 63 Prozent an Wert verloren und notiere auf dem niedrigsten Stand seit Einführung flexibler Wechselkurse Ende der 1960er-Jahre, erklärt Nicholas Smith, Chefstratege von CLSA Japan.

Das merken Urlauber. Die Reiseplattform Opodo etwa gibt an, dass ein Mittagessen in Frankfurt im Schnitt fast dreimal so teuer ist wie in Tokio. Auch seien Zugtickets in der Megametropole deutlich günstiger, ebenso Taxifahrten oder eine Tasse Kaffee. Hinzu kommt, dass es durch globale Buchungsportale für Hotels weitaus einfacher geworden ist, auf eigene Faust und kostengünstig im Land vertreten zu sein.

Die günstigen Preise haben sich ebenso rumgesprochen wie die Attraktivität des Urlaubslandes. „Der Hunger nach Japanreisen ist so hoch wie lange nicht mehr“, heißt es vom Deutschen Reiseverband (DRV). Japan gehöre in diesem Sommer im deutschen Reiseveranstaltermarkt zu den Reisezielen mit einer der höchsten prozentualen Wachstumsraten beim Umsatz.

In den ersten drei Monaten dieses Jahres besuchten nach Daten der japanischen Touristenorganisation rund 73.000 Deutsche das Land – gut 36 Prozent mehr als im Vor-Corona-Jahr 2019. Erst seit etwa einem Jahr sind die Corona-Einreisebeschränkungen Japans komplett weggefallen. Noch stärker stieg die Zahl der Besucher aus den USA: um mehr als 50 Prozent auf über 570.000 Besucher.

Rund drei Viertel der ausländischen Touristen in Japan stammen aus Japans Nachbarländern Südkorea, Taiwan, China und Hongkong. Europäer sind zwar nur eine kleine Gruppe, aber sie lassen pro Person am meisten Geld im Land. Die Deutschen geben mit 330.929 Yen (2016 Euro) nach einer amtlichen Statistik etwa ein Viertel mehr aus als Chinesen und dreimal so viel wie Südkoreaner.

Mehr Sterneküchen in Tokio als in ganz Paris

Daniel Beringer ist einer der deutschen Besucher, ein Vielreisender mit Wohnsitz in New York. „Tokio ist eine Weltmetropole, die ich schon lange besuchen wollte“, sagt er nach seinem fünftägigen Besuch. Zudem lockten Beringer weiche Faktoren, von denen er im Studium gehört hatte: der hohe Grad an Organisation, Kollektivität und das Prinzip der ständigen Verbesserung von Produkten und Prozessen, Kaizen genannt.

Der französische Restaurantführer Guide Michelin zählt in Tokio mehr Sterneküchen als in ganz Frankreich. Zudem gibt es eine Vielzahl Subkulturen, gerade die japanischen Videospiele, Comics und Animationsserien – Manga und Anime – haben weltweit starken Einfluss auf die Popkultur.

Es ist keine Reise in ein anderes Land, sondern ein Sprung in eine parallele Dimension.

Beringer hat seinen Besuch genossen: „Es ist keine Reise in ein anderes Land, sondern ein Sprung in eine parallele Dimension.“ Er wolle wiederkommen und sich dann mehr Zeit nehmen, um mehr vom Land zu sehen. „Insgesamt habe ich Tokio aus der Perspektive eines New Yorkers als günstig empfunden. Ich bereue fast, nicht mehr eingekauft zu haben", meint er.

Sowohl bei Restaurants als auch bei Hotels ist die preisliche Spreizung des Angebots groß. Das Übernachtungsangebot reicht von Luxushotels bis hin zu günstigen Herbergen für Rucksacktouristen.

Ein Einzelzimmer für 30 Euro die Nacht

Schon für 3000 bis 4000 Yen (18 bis 24 Euro) könne man in einem der berüchtigten Kapselhotels oder im Schlafsaal einer Backpacker-Herberge übernachten, sagt Thierry Maincent, Chef des Reiseunternehmens Japan Experience in Paris, einem der größten europäischen Anbieter von Japanreisen. „Das ist billiger als in einer deutschen Jugendherberge.“

Auf Buchungsportalen finden sich im früher sehr teuren Tokio inzwischen auch reguläre Hotelzimmer zwischen 50 und 100 Euro pro Nacht. In ländlicheren Gegenden wie Mikawa an der Nordküste bauen Anwohner leer stehende Häuser in kleine Pensionen um. Das Einzelzimmer kostet dann rund 30 Euro die Nacht.

Das hilft Japan auch dabei, die Hotspots zu entlasten. Regierungschef Fumio Kishida sagte zuletzt bei einem Ministertreffen zum Thema Tourismus: „Die dringende Aufgabe besteht darin, die ungleich verteilten Übernachtungen in den drei großen Ballungsräumen auf die Regionen zu verteilen und schneller nachhaltige Tourismusregionen zu schaffen.“ Denn grundsätzlich will die Regierung die Zahl der ausländischen Touristen von 32 Millionen vor der Coronapandemie bis 2030 auf 60 Millionen fast verdoppeln.

Die Erkundung jenseits der drei Haupttourismusstädte Tokio, Kioto und Nara käme vor allem für europäische Besucher infrage, die meist zwei bis drei Wochen im Land blieben und verschiedene Orte erleben wollten, urteilt Reisefachmann Maincent. Asiatische Besucher blieben meist nicht lang genug.

Europäer seien oft erfahrene Reisende auf der Suche nach einmaligen, stimulierenden Erlebnissen, sagt PR-Fachfrau Yumiko Nishitani, die seit Jahren Regionalregierungen bei ihren Presse- und Werbeaktivitäten berät. Gerade bei der großen Zahl der asiatischen Touristen handelt es sich oft nur um kurze Reisen zu einigen der touristischen Topziele.

„Und die Deutschen sind dafür bekannt, dass sie zu den unbekanntesten Zielen reisen.“ Doch selbst hier sieht sie hohe Hürden, sie in die äußeren Regionen Japans zu locken. „Die Nachfrage ist da, aber auf dem Land fehlt es oft an englischsprachigem Personal.“

Auch fehle dort touristisches Know-how. „Die lokalen Regierungen und offiziellen Tourismusorganisationen haben kein professionelles Tourismusmarketing“, sagt sie. Sie wüssten daher nicht, dass Europäer in Japan alltägliche Dinge wie Reisfelder sehenswert finden.

Japanflüge können teuer sein

Teurer als der Urlaub vor Ort können aber schnell die Flüge nach Japan werden. Die Kapazitäten sind immer noch weitaus niedriger als in der Vor-Corona-Zeit, das schlägt auf die Preise durch. Auch der Deutsche Reiseverband nennt die „derzeit knappen Flugkapazitäten“ als Hindernis für einen weiteren Anstieg der Zahl deutscher Besucher in Japan. „Und zum Teil gibt es auch Personalengpässe bei den Guides vor Ort.“

Hinzu kommt, dass die ersten Hotelanbieter auf die hohe Nachfrage bereits mit Preisanhebungen reagieren. Fujita Kanko, eine Kette von mehr als 30 Billighotels, verlangt mit durchschnittlich rund 13.500 Yen (82 Euro) pro Zimmer 20 Prozent mehr als vor der Pandemie.

Die Gäste kommen trotzdem – aus Übersee wie auch aus Japan selbst. Denn der historisch schwache Yen verteuert zugleich Auslandsreisen für Japaner drastisch. In der Folge hat sich die Zahl der Überseereisen im vergangenen Jahr halbiert, zeigt eine Statistik der nationalen Tourismusorganisation JNTO.

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